Mittwoch, 19. Dezember 2007

Aus Den Haag I (Rembrandt)



Einen Steinwurf vom Gericht entfernt, wo wir am 14.12.2007 um das Recht kämpfen mußten, das Ferienhaus unserer Großfamilie weiter als "tweede Woning" nutzen zu dürfen, liegt das berühmte Museum „Mauritshaus“, mit dem laut Marcel Proust schönsten Gemälde der Welt, Vermeers Stadtansicht von Delft, oben ist eine kleine Fotografie davon abgebildet. Wir finden angesichts eines in wenigen Wochen zu erwartenden negativen Urteils zumindest für die Augen Trost beim Besuch dieses wunderbaren Bildes, mit seinem Spiel von Licht und Schatten, Sonne und Regen.

Im Obergeschoß des Mauritshauses gibt es in diesen Tagen eine Sonderausstellung mit Porträtmalerei aus dem 17. Jahrhundert, der reichen und mächtigen Periode der Niederländer, ihrem „Gouden Eeuw“. Der Wohlstand und das Selbstbewußtsein der Menschen haben damals unter anderem auch die Porträtmalerei befördert und unzählige Bilder hervorgebracht.

Die erfolgreichsten Porträtisten dieser Zeit waren Rembrandt und Frans Hals, und wenn man vor dem lebendigen Bild eines älteren Kaufmanns und seiner Frau steht (ich füge einen Ausschnitt bei, der Kaufmann heißt Jan Rijcksen), das Rembrandt gerade so malt, als ob er die beiden mit seinem Erscheinen überrascht hat, dann kann man sich vorstellen, wie die Menschen erstaunt gewesen sind, sich von Rembrandt so lebensecht gemalt zu finden.

Einen Augenblick überlege ich, ob Jan Rijcksen mit seinem Konterfei einverstanden war. Man kann es vermuten. Sicher bin ich mir, daß die Kinder und Enkel der Familie Rijcksen nach des Ahnherren Tod das Bild angesehen und gesagt haben "das war er!"

Rembrandts Stil ist mir allerdings nach wie vor rätselhaft. Er ist oft so wenig fotografisch, so verwischt und in manchen Details so ungenau, manchmal so unscharf, daß einem die Bilder erscheinen, als betrachte man sie durch einen Schleier . Das Rätsel wird bei einigen Gemälden sogar noch größer, wenn man näher an sie herantritt und dann bestätigt findet, was man beim ersten Blick eher intuitiv erfaßt hat: Bildregionen mit präzisen Details wechseln sich ab mit anderen, die eher hingeworfen und mit der linken Hand ausgeführt erscheinen.

Zwei Bilder am Beginn der Ausstellung fallen besonders auf und geben schließlich doch einen Hinweis auf eine mögliche Lösung des Rätsels.

Das eine zeigt Rembrandt in einem kleinen Selbstporträt als jungen Mann, dessen Gesicht nur in wenigen Partien scharf und präzise gemalt ist, während sich die vom Betrachter aus gesehen rechte Gesichtshälfte und fast alle Haare in einem Bereich befinden, der entweder im Schatten liegt oder so verwischt wirkt wie Teile eines Fotos, die außerhalb des Bereichs der Tiefenschärfe liegen und daher nur schemenhaft zu erkennen sind.




Gleich neben dem Selbstporträt hängt ein größeres Bild, ebenfalls ein Selbstporträt, auf dem Rembrandt einen feinen Federhut trägt. Diesen Hut hat Rembrandt recht detailgenau gemalt. Die Figur darunter wendet sich über die Schulter dem Betrachter zu und blickt ihn ein wenig kritisch an, lebendig eingefangen in einer eher momentanen Pose, gerade so, als ob ihn auch hier der Betrachter überraschend angesprochen hat. Die Wiedergabe des Bildes hier ist ein wenig braunstichig, das Original ist in seinen Farben sehr viel besser.

Unter dem präzisen Federhut wirkt das Gesicht in manchen Partien wieder eigenartig ungenau. Der rotblonde Oberlippenbart hängt etwas ungeordnet über den Mund, und ich habe im Museum dreimal hingeschaut, um herauszufinden, ob man durch den Bart die Lippen sieht oder nicht, und ob sie vielleicht geöffnet sind, wie man je nach Blickwinkel meinen könnte. Wundersamerweise kann man das alles auch beim mehrfachen Hinsehen gar nicht wirklich feststellen, und das ein wenig kritische Gesicht des Gemalten scheint schließlich auch sagen zu wollen: nun guck mich nicht dauernd an, du weißt doch jetzt, wer ich bin!

Hier scheint mir ein Zugang zu Rembrandts Bildern zu liegen: sie wollen nicht wie eine Landkarte gesehen werden, deren Details man langsam und nach und nach studieren kann, sondern den lebendigen Eindruck so einfangen, wie er im Auge und im Gehirn eines Betrachters im Bruchteil einer Sekunde entsteht. Die Empfehlung für den Betrachter scheint zu sein: Hinsehen – und gleich wieder abwenden! Und man hat den ganzen Eindruck.

Natürlich darf man vor einem Rembrandtbild wie vor jedem anderen Bild lange stehen bleiben und es in seinen Einzelheiten betrachten. Jedes Bild der Welt will ja dazu einladen, genau gelesen zu werden. Aber was man bei Rembrandt dann erfährt, das sind möglicherweise weniger die Details aus dem Gesicht des Porträtierten, die Poren und Pickel, die man auf den ersten Blick nicht gesehen hat. Man lernt statt dessen, was dieser „erste Blick“ überhaupt ist, lernt etwas über das Sehen selbst – etwa ganz praktisch das Geheimnis der Tiefenschärfe, lange vor Entdeckung der optischen Gesetze – und über das Zusammenspiel von Auge, Gehirn und Herz, wenn sie alle gemeinsam diesen Moment des ersten Blicks erzeugen, der ein geniales Konzert aller beteiligten Sinne ist.



Bei einem der Bilder hat Rembrandt die goldenen Stickereien auf dem feinen roten Mantel eines noblen Herrn so achtlos mit ein paar eckigen gelben Strichen gemalt, daß man vermuten könnte, der Mann, Jan Six heißt er, habe das Bild nicht komplett bezahlt und habe sich deshalb mit einer halbfertigen Lieferung abfinden müssen. Aber wenn man sich dem nachdenklichen, etwas abwesenden und trotzdem intensiven Blick des Jan Six stellt, dann ahnt man, daß man bei einer leibhaftigen Begegnung mit ihm genausowenig von den Stickereien mitbekommen würde wie auf dem Bild. Sein Blick nimmt sein Gegenüber gefangen.

Auf einem anderen Bild ist ein jüngerer Mann mit dem noch etwas unfertigen Gesicht eines Halberwachsenen gemalt. Man vergißt das Gesicht bald wieder, erinnert sich vielleicht noch an die rote Nase und die roten Wangen, die den Mann als einen Menschen der frischen Luft porträtieren, erinnert sich vielleicht verwundert an den Eindruck, wie wenig man über dieses Gesicht erfährt, und denkt im Gegenteil an den wunderbar präzise ausgemalten Lederkragen seines Gewandes, der mit Verstärkungen und Nieten versehen einem Harnisch oder dem Tragegeschirr eines Pferdes ähnlich ist. Vermutlich hat man damals an diesem Wams den Beruf des Mannes erkannt, vielleicht hatte er eine spezielle polizeiliche oder soldatische Aufgabe, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat Rembrandt ihn bei aller künstlerischen Freiheit sicherlich nicht beleidigt, indem er diesen Kragen so präzise und das Gesicht dagegen so verschwommen gemalt hat. Immerhin hat der Mann oder ein ihm verbundener Auftraggeber viel Geld für das Bild bezahlt. Es wird etwas Richtiges in der Beobachtung sein, daß der Kragen mehr über den Mann sagt als sein Gesicht.

Rembrandt malt Bilder eines ersten, ganzheitlichen Eindrucks und bleibt damit singulär unter den in der Regel viel fotografischer malenden Kollegen seiner Epoche. Wenn man ihn am Ende in seinen Selbstporträts als alten Mann sieht, dann legt sich ein zweiter Schleier über die Details des gemalten Gesichts: der Schleier der Barmherzigkeit.



Man ahnt etwas vom Drama eines zu Ende gehenden Lebens, von Bitterkeiten, Rückschlägen und erloschenen Leidenschaften. Diese Bilder sind auch ohne präzise Details vollkommen wahr, sie würden den Betrachter vielleicht mit ihrer Kraft verletzen, wenn sie den Schleier nicht hätten und mehr Einzelheiten preisgeben würden. Auch durch den Schleier hindurch betrachtet sind die Verwüstungen des Alters deutlich genug zu sehen.

Wenn es etwas gibt, das sie erträglich machen könnte, dann die Erinnerung an das Licht, das diesem Menschen in seinem Leben erschienen ist, und das er so unvergleichlich malen konnte.

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

Chiaroscuro

Thomas Bernhard kommt mir immer als Rembrandt der Literatur vor. Mit kräftigen Schraffuren aus Schimpf- und Übelreden schafft er seinen durchweg schwarzen Hintergrund, von dem sich dann Helleres abhebt. So dargestellt, scheint die Rollenverteilung klar: Das Dunkel ist da, um dem Hellen mehr Wirkung zu verleihen. Aber wer kann sicher sein, daß es nicht genau anders ist, und das Helle dient nur dazu, das Dunkel sichtbar zu machen.

Auch nach dem Ende der Goldgrundmalerei kennt die Renaissance zunächst überwiegend noch vom Blick Gottes gleichmäßig durchleuchtete Räume. Das Chiaroscuro tritt in dem Augenblick auf, als sich die Wissenschaft daran macht, uns die Welt endgültig zu erhellen. Von Rembrandt gibt es auch das Wissenschaftsgemälde von der Sezierung des gehenkten Stadtgauners Aris Kindt durch den berühmten Anatom Nicolaas Tulp. Das Gemälde wird wiederum sorgsam und eindrücklich seziert von Sebald bereits im ersten Kapitel seines Buches über die Ringe des Saturns. Erhellt uns die Wissenschaft wirklich die Welt, oder verdeutlicht sie vornehmlich das uns umgebende Dunkel?

Von Altdorfer gibt es eine Darstellung des Heiligen Georg, in der Drache und Drachentöter miniaturenhaft und auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen in eine Waldlandschaft eingefügt sind. Stellt man sich dieses Gemälde vor wiederum eingefügt in ein vielfach größeres, das aber zusätzlich nur aus dunklem Hintergrund besteht, so wäre das keine schlechte Allegorie über Mensch und Welt.

In einem Buch, ich glaube von Markus Werner, glaubt die Frau, die Welt werde immer besser „und sei schon fast gut“. Der Blogger teilt wohl überwiegend diese Ansicht. Der Mann im Buch teilt sie beileibe nicht und sieht die Welt am eher am Abgrund. Er hat den Kommentator auf seiner Seite. Der Autor des Buches gestaltet die Frau äußerst liebenswert, ist sich in der Lageeinschätzung aber eher einig mit dem Mann.