Samstag, 20. September 2008

Nichts ist schwerer zu ertragen …





Scuol / Schweiz, letzter Tag

Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Mit diesem Goethe-Reim* im Herzen wird uns der Abschied von diesem perfekt schönen Land etwas leichter. Es ist tatsächlich so, daß man angesichts von vielen großen Eindrücken ringsum, die wiederum zwangsläufig, ja verpflichtend zu einem Gefühl des Glücks und der Dankbarkeit führen müßten, manchmal von dem Gedanken belastet wird, daß man allen diesen wunderbaren Dingen im Grunde innerlich nichts entsprechendes entgegenzuseten hat.

„Kinder, wißt ihr, wie gut ihr es habt?“ mahnte uns unsere Mutter an schönen Urlaubstagen (wir wußten es natürlich und wußten es doch nicht), und entsprechend steht es dann an Tagen wie den vergangenen wie eine unerfüllbare Maxime über jeder einzelnen Stunde: „Sei glücklich!“ Es ist nicht zu schaffen.

Ich bin an manchen Morgen mit der Nachwirkung düsterer Träume, dem üblichen Gemisch berechtigter und unberechtigter Alltagssorgen älterer Menschen, wachgeworden und hatte dabei gleichzeitig den Blick auf die wunderbare Bergwelt, die mich zum Fenster hinein grüßte. Ich habe dann versucht, das alles unter einen Hut zu bringen, die Probleme, die ich mit mir herumschleppe und gleichzeitig das Bewußtsein, mich in einer Hoch-Zeit meines Lebens zu befinden. Aber es paßte alles irgendwie nicht zueinander.

Das Glück der letzten Tage ist wie eine schöne Musik gewesen, die man mit Nebengeräuschen vorgespielt bekommt. Manche Ansichten von hohen Aussichtspunkten aus, waren getrübt vom vergossenen Schweiß des Aufstieges, der in den Augen brannte. Manche Panoramablicke auf langen Wanderungen waren wegen der müden Füße nur halb so genußvoll, wie es die Fotos, die man später betrachten wird, glauben machen werden.

Aber trotzdem: es ist Glück gewesen.



Und es war an vielen Orten ein doppeltes Glück, weil nämlich die Erinnerung zurückkam an die Zeiten mit den Kindern, mit denen wir hier vor zuletzt zwölf Jahren Urlaub gemacht haben. Matthias als der Jüngste war damals 9 Jahre alt.

Daß wir ihnen die Schönheit der Berge gezeigt haben, daß wir sie in eine teilweise unberührte, teilweise in ihrer Kraft kaum zähmbare Natur geführt haben, das erfüllt mich in der Erinnerung mit tiefer Dankbarkeit und Genugtuung. Sie haben es gesehen! habe ich oft gedacht, habe mich manchmal auch daran erinnert, wie schön es damals war. Auch damals ging es nicht ohne Nebengeräusche ab, ich mußte die Touren in die Berge oft gegen mancherlei Widerstand organisieren.

Meine Kinder sagen mittlerweile, ich hätte ihnen damals mehr Freiheiten lassen sollen, ihr eigenes Programm zu organisieren, aber ich erinnere mich daran, wieviel Kraft es schon gekostet hat, sie wenigstens jeden zweiten oder dritten Tag für ein paar Stunden aus ihrem gewohnten Programm hinaus und in die Berge zu locken. Aber sie sind mitgegangen, und ich glaube, daß sich das Panorama der Dreitausender auf der Südseite des Inn unvergeßlich in das Herz eines jeden einprägt, der den Höhenweg von Guarda über Ardez nach Ftan und Scuol nimmt (wir gingen ihn am Dienstag und erinnerten uns an Einzelheiten des damals mit den Kindern gegangenen Weges).

Das Zusammenspiel der ewigen Berge und der vom Schönheitssinn der Menschen und von ihrer Tapferkeit und Kraft zeugenden alten Besiedlungen der Menschen hoch auf der Nordseite des Flusses ergeben zusammen einen in dieser Form auf der ganzen Welt sicherlich kaum ein zweites Mal zu findenden Eindruck.

Glücklich der Mensch, der Bilder davon in seiner Seele nach Hause trägt.

* So wie er häufig zitiert wird. Wörtlich heißt es wohl Alles in der Welt lässt sich ertragen, Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen. Aus Goethes Sammlung „Sprichwörtlich“ von 1815.

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