Freitag, 28. Mai 2010

Bruder Murat





Mit unserem Reiseleiter verbindet mich nicht nur die Liebe zu unserem jeweils angestammten Glauben, sondern auch die zur Philosophie. Beide haben wir, wie wir auf der Reise feststellen, in unserer Schulzeit in diesem Fach gute, prägende Lehrer gehabt, beide tragen wir noch Worte und Sätze aus dieser Zeit mit uns herum. Allerdings steht bei uns beiden der Glaube natürlich sehr hoch über allem menschlichen Denken. Es wundert mich deshalb nicht, daß Murat zunächst spontane Zustimmung äußert, als ich ihm die Geschichte* vom Brand der Bücherei in Alexandria erzähle.

Als Alexandria 642 durch den Kalifen Umar ibn al-Chattab für den Islam erobert wurde, soll dieser sogleich alle diejenigen Bücher der damals weltgrößten Bibliothek verbrannt haben, die dem Koran widersprachen – sie waren schädlich. Danach wurden aber auch die Bücher verbrannt, die ihm nicht widersprachen – sie waren überflüssig. So wurden am Ende alle Bücher ein Raub der Flammen.

Auch mein frommer Vater konnte gelegentlich so radikal und vereinfachend wie der Kalif Umar über fremde Bücher urteilen. Murat schränkt im Gespräch seine spontane Zustimmung zu dieser Radikalität zugunsten eines differenzierten Bildes ein: es gibt durchaus Bücher, die allein schon deshalb erhaltenswert sind, weil sie zum Leben und zur Kultur von Menschen gehören, die unsere Liebe und unsere Achtung verdienen.

Unsere Gespräche auf der Reise kommen immer wieder auf die Frage zurück, ob ein konsequentes Ausleben des Glaubens andere Gedanken und andere Handlungsweisen ausschließt. Murat ist sehr entschlossen in seinem Glauben und deshalb in seiner Jugendhaftigkeit manchmal nach meinem Eindruck auch eher ausgrenzend in Bezug auf alles, was sich diesem Glauben als Hindernis zeigen könnte.

Gleichzeitig ist er aber auch in dem Dialogverein, der unsere Reise veranstaltet, in vorderer Linie für das Gespräch mit Andersdenkenden zuständig. Vielleicht sollte er, sage ich ihm, so handeln, wie der marxistische Student, den ich um 1968 herum beim Lesen der damals als bürgerlich-liberal verschrieenen „Zeit“ antraf. Er entschuldigte sich: man müsse ja auch wissen, was der Klassenfeind liest.

Murat lacht, wenn ich ihm das erzähle. Je länger ich ihn kenne desto mehr sehe ich bei ihm einen Glauben, der ebenso wie meiner zwar von festen Ur-Geboten bestimmt wird, der sich aber im Alltag in Situationen bewähren muß, in denen Schwarz und Weiß nicht immer klar zu unterscheiden sind. Die moderne Welt macht es hier allen Fundamentalisten schwer, auch wenn die heutigen Menschen wie alle anderen vor ihnen nach einem Fundament suchen.

In dieser Suche nach festen Linien in der gauen Unübersichtlichkeit des Lebens ist Murat mein Bruder.

* sie wird auch in Wikipedia überliefert, dort aber als Legende geführt




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