Mittwoch, 22. September 2010

Dichtung und Wahrheit






Der Schriftsteller W. G. Sebald hat über Korsika berichtet, nachdem er die Insel um das Jahr 1995 herum bereist hat. Einige Stücke sind noch zu seinen Lebzeiten erschienen (er starb 2004), einige wurde posthum veröffentlicht. Ein wichtiger Ausgangspunkt für viele seiner Gänge und Fahrten war das altehrwürdige Hotel Les Roches Rouges in Piana, das seinen Namen den weltberühmten roten Felsen der Calanche verdankt, auf welche es blickt. Er hat diese Felsen wunderbar beschrieben, wie sie in der untergehenden Sonne ihr Rot noch einmal vertiefen und verstärken und wie ihm Feuer brennen.

Der enorme Eindruck, den dieses Naturschauspiel macht, wird auch in den Touristenführern beschrieben. Leider konnten wir uns kein eigenes Bild machen, weil am ersten Tag die Sonne bereits eine Stunde vor Untergang hinter den Wolken verschwand. Am zweiten Tag war es dann vollständig bewölkt, und das Rot der Steine leuchtete nur schwach. Trotzdem ist der zauberhafte Reiz der manchmal scheinbar zu Fabelwesen verformten Steine, durch deren Felsengarten sich eine enge Paßstraße von Piana hinunter zum kleinen Hafen von Porto windet, sehr stark.

Sebald hat bei einem Gang von Piana (450 m über dem Meer) hinunter an die idyllische, kaum 100 m breite Badebucht von Ficaghiola seine Kräfte überschätzt, ist zunächst fast zu weit hinausgeschwommen und hat dann auf dem Rückweg viel Schweiß auf der endlos sich hinauf nach Piana schlängelnden Straße vergossen. Oben angekommen besucht er in einem Zustand großer Erleichterung den Friedhof von Piana. Hier beginnt in „Campo Santo“ eine längere Betrachtung über das Verhältnis der Lebenden zu den Toten, die Sebald noch durch Material aus einem Buch eines seiner Kollegen an der Norwicher Universität ergänzt. Wir gehen mit dem Sebald-Buch in der Hand über den kleinen Friedhof und finden alles so, wie er es beschrieben hat.

Gerne hätten wir auch in Ficaghiola gebadet, man kann den Ort mit dem Auto erreichen, aber die Straße, die hier in eine Art von Schlucht abstürzt, ist nichts für die Nerven meiner Frau. Außerdem erfahren wir von Wanderern, die wir in der Nähe von Piana auf dem Höhenweg zum ganz im Westen gelegenen Capu Rossu treffen, daß der Badestrand gestern wegen schlechter Wasserqualität gesperrt wurde. Hier hat Sebald, am Strand liegend, den kleinen Bach, dessen quecksilbriges Wasser selbst jetzt, am Ende des Sommers, ohne Unterlaß […] über die letzten Granitstufen der Talsohle herablief, um lautlos auf dem Strand seinen Geist aufzugeben und zu versickern, vermutlich nicht als potentiell mit den Abwässern des Dorfes kontaminiert erkannt und statt dessen eine quecksilbrige Idylle geschaffen.

Das Hotel selbst habe ich bislang nur von außen betrachtet. Es beherrscht in seiner hohen, schmalen Bauweise mit Proportionen wie eine große, auf die Reibeflächen gestellte Streichholzschachtel, das Panorama des Ortes und ist von der Flotte der im Baumhof geparkten Limousinen her zu urteilen nicht ganz so out-of-date wie Sebald es schildert. Man freut sich, daß unsere Dichter nicht in den Economy-Hotels absteigen wie unsereiner. Irgendwie reisen sie ja an unserer Stelle, da verlangt man es fast, daß sie ein angemessenes Quartier finden.

Heute abend wollen wir in der Lobby einen Aperitif trinken und hoffen, daß die roten Felsen dazu recht ordentlich brennen. Immerhin haben sich die Wolken von gestern schon wieder fast verzogen.



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