Montag, 4. Februar 2013

Wem das Land gehört

Arqaba, 25. Januar 2013

Die zu Herzen gehende Fröhlichkeit der Kinder, die uns in den Dörfern geradewegs so begrüßen, als rollte mit uns eine Art Tour-de-France-Etappe durch das Land, macht es schwer, nicht in den Ton der üblichen Standardberichte zu verfallen. Sie haben wenig, aber sie lachen immer und teilen mit Dir noch das letzte, was sie haben. Wie oft hat man das gehört, und dann die Fotos vom bleichen alten Mitteleuropäer gesehen, inmitten einer Schar lachender brauner Kinder.

Nein, dieses Klischee will ich unter allen Umständen vermeiden. Ich will erzählen, dass sie alle etwa ab dem dritten Schuljahr offenbar genug Englisch gelernt haben, um How are you?, and What is your name? fragen zu können, die Älteren können sogar schon recht vernünftige Gespräche mit einem führen. Das ist bemerkenswert, weil das Erlernen der englischen Sprache ja mit dem Einstudieren des lateinischen Alphabets einhergeht – eine schwierige Übung, die der gut nachvollziehen kann, der einmal Griechisch oder Russisch zu lernen versucht hat. Natürlich ist außerdem der Sprung vom semitischen Arabisch mit seinen runden Schriftzeichen zum westeuropäischen, lateinisch geschriebenen Englisch ungleich schwerer als unser Übergang vom Deutschen zu der vielfach verwandten Schwestersprache der Briten. In Palästina lernen die Kinder seit einiger Zeit vom ersten Schuljahr an Englisch und müssen sich also von Anfang an mit zwei Schriften herumschlagen.


Nein, und arm sind sie auch nicht. Sie sind dörflich gekleidet, tragen vielfach einfache Pullover und Jacken, die sie offenbar nur für ein paar Monate benötigen, der Winter hier ist kurz und relativ warm. Was ihre Eltern an Tee und Säften hervorzaubern, wenn man nur einen Augenblick vor einem Haus stehen bleibt, würde mit seinem kräftigen ländlichen Geschmack auf jedem europäischen Wochenmarkt die Käufer begeistern, nicht zu reden von dem grüngolden schimmernden Olivenöl, in das man sein Brot tunkt und dem frischen weißen Joghurt-Quark, dessen feine Säure auch französische Gourmets zufriedenstellen würde.
Ich denke auf unseren Wegen oft an den rätselhaften biblischen Begriff der anawim,
(ענוים) der Kleinen und Gebeugten, die ihr Leben in Sanftmut verbringen und denen versprochen wird, dass sie das Land besitzen werden. Gebeugt sind die Kinder in Palästina in dem Sinne, dass die große Weltpolitik ihnen nur eine Randexistenz zugesteht, eingeschränkte Möglichkeiten, eines Tages ferne Länder zu erkunden oder politisch frei über ihre Angelegenheiten zu bestimmen.
Einen Hirten sah ich, fern in einem Tal, der inmitten einer bukolischen Idylle von Schafen und Olivenbäumen in terrassierten Gärten sein Nachmittagsgebet verrichtete. Ich dachte daran, dass der Prophet Mohammed in Sure 21, 105 den Psalm 37 zitiert, in dem in vierfacher Weise das Versprechen gegeben wird, dass Gott die Erde anders verteilt, als die Mächtigen uns das glauben machen wollen. Im Koran wird die dritte (Vers 29) dieser vier Psalmstellen wiedergegeben: „die Gerechten werden das Land besitzen“, Jesus übernimmt die erste Stelle (Vers 11) für seine Bergpredigt und sagt: „die Sanftmütigen werden das Land besitzen.“
In der Verwendung dieses Psalms liegt die einzige wörtliche Schnittstelle aller drei Bücher der abrahamitischen Religionen. Hinter diesen Worten steht also die Autorität dreier großer Weltbücher. Man darf deshalb fragen, ob hier nicht eine Verheißung verkündet wird, die nicht erst in ferner Zukunft wahr wird, sondern eine verborgene Wirklichkeit beschreibt, die schon heute gilt. Gehört diesem Schäfer, der unten im Tal sein Gebet verrichtet, das Land nicht in einem viel stärkeren und tieferen Sinne als den israelischen Kampfjets, die immer wieder weithin hörbar das Land überfliegen und  es für sich reklamieren? Ich sah halbwüchsige Kinder in einem Hain mit Obstbäumen und Oliven eine Schafherde hüten und spürte, wie sie in einem ganz tiefen Sinn hier zu Hause waren, mit dem Boden verwurzelt, die wahren Eigentümer des Landes.
Natürlich sollte man für die Verbesserung ihrer Lebensumstände sorgen, für  ihre Erziehung, sollte es ihnen ermöglichen, tüchtige Ingenieure, Lehrer und Ärzte zu werden. Aber werden sie die Fülle des menschlichen Lebens und seiner Möglichkeiten besser erfahren können, wenn sie das moderne Ziel erreichen, eine Vierzimmerwohnung im dritten Geschoss in einem der Ballungszentren der modernen Welt zu beziehen und von dort morgens im grauen Nebel losziehen können, um in einer der großen Industrieanlagen zu arbeiten?
Ich bezweifle das. Ich schaue mich staunend um – und sehe die Kinder Gottes, denen er bereits jetzt das Land vererbt hat, ganz unabhängig von jeder politischen Ordnung.

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