Sonntag, 21. Juni 2015

Ein Jahrhundertbuch, fortgesetzt




 

 
Bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Angelika Neuwirth hat der Basler Kirchengeschichtler Martin Wallraff ihr Buch Der Koran als Text der Spätantike als eines der Bücher bezeichnet, die nur alle hundert Jahre einmal geschrieben werden. Frau Neuwirth hat sich mit einem Vortrag bedankt, den sie dann später zu einem 116 Seiten starken Buch erweitert hat, das vor einigen Monaten unter dem Titel erschienen ist Koranforschung – eine politische Philologie.

In diesem Buch greift sie die im Koran selbst begründete Lehre von der unterschiedlichen Bedeutung verschiedener heiliger Worte, also von der Ambiguität frommer Texte, neu auf und stellt sie in einen größeren Zusammenhang. Das Ergebnis ist überraschend.

Sie schildert zunächst, dass die Ambiguität auch von Koranwörtern grundlegend in Sure 3 dargelegt ist. Dort heißt es

Gott ist es, der die Schrift auf dich herabgesandt hat, darin sind Verse, die eindeutig sind, sie sind die Mutter der Schrift, und andere die mehrdeutig sind.

In der klassischen Übersetzung von Max Henning heißt es in ihm sind evidente Verse ... und andere dunkle.


Frau Neuwirth stellt nun diese Worte vom Beginn der Sure 3 in den Gesamtzusammenhang der weiteren 195 Verse dieser sehr langen, erzählenden Sure, deren Überschrift Das Haus Imran ist. Sie enthält die Geschichte der Nachkommen des biblischen Amran (2. Mose 6,20), welcher der Vater von Mose, Aaron und Mirjam war. Der Koran erzählt in besonderer Weise die Geschichte der Mirjam (arabisch Meryem), in deren Verlauf eine Angleichung der alten Mirjam/Meryem, Moses Schwester, an die spätere Mrijam/Meryem/Maria geschieht, der Mutter Jesu.

Da es sich bei Sure 3 um eine in Medina entstandene Sure handelt (der Koran führt den Offenbarungsort jeweils in der Überschrift aller Suren auf), legt Frau Neuwirth den Gedanken nahe, dass in Medina etwas Besonderes geschehen ist.

Hier hat die junge, aus Mekka vertriebene muslimische Gemeinde erstmals Kontakt mit Juden gehabt, die in Medina stark vertreten waren. Die Muslime, die in Medina in einer Art von Exil lebten (aus dem sie nach zehn Jahren zurückkehrten), trafen damit auf Menschen, die – anders als die in Mekka lebenden Polytheisten – in ihrer Verehrung für den einen Gott Glaubensverwandte waren. Entsprechend wurden die jüdischen Traditionen auf die Geschichten hin untersucht, die auch für die junge muslimische Gemeinde glaubwürdig und glaubensstärkend waren.

Frau Neuwirth setzt dabei voraus, dass bereits in der polytheistischen Umwelt von Mekka eine Reihe von Geschichten des Alten und Neuen Testamentes bekannt waren. Unbekannt war aber wohl die damals „moderne“ rabbinische Tradition, den heiligen Schriften verschiedene Auslegungsmöglichkeiten zuzuschreiben. Die Tora habe verschiedene Gesichter (panim), die panim shel ha-torah, lehrten die Juden.
Dieser Gedanke kehrte nun erstmals auch in den Koran ein*, in den oben erwähnten Versen aus Sure 3, welche von den eindeutigen und mehrdeutigen Koranworten berichten. Eigenartigerweise stehen diese Verse in unmittelbaren Zusammenhang des Bildes vom Leib der Mutter, in welchem Gott die Menschen formt, wie er will (Q 3,4).

Dies wiederum fügt sich ein in das Bild der ersten Meryem: in der Annahme, das Kind werde ein Junge, weiht es die Mutter noch vor der Geburt dem Tempel - so der Bericht des Koran. Aber Gott formt es als Mädchen, er hat als einziger die Macht, über die natürliche "Mehrdeutigkeit" der Schwangerschaft zu entscheiden.

Aber damit ist das Motiv der Mehrdeutigkeit noch nicht ausgeschöpft. Die Spannung zwischen der auch im Koran berichteten Jungfräulichkeit der Mutter Jesu und ihrer Mutterschaft ist eine weitere Quelle der Ambiguität. Diese wird am Ende aber noch einmal gesteigert, indem sie auch auf Jesus hin gedeutet wird, dessen Empfängnis und Geburt und damit sein Wesen sowohl in der Bibel wie auch im Koran in höchstem Maße uneindeutig sind.
Frau Neuwirth gibt in einer Fußnote als Quelle für diesen Jesus-Bezug eigenartigerweise kein Buch, sondern ein privates Gespräch mit dem berühmten ägyptischem Gelehrten und Vertreter eines liberalen Islam Nasr Amid Abu Zaid (1943 - 2010) an, das sie 2007 mit ihm in Istanbul führte. Abu Zaid hat hinter Sure 3 letztlich die Begegnung der Muslime mit einem christologischen Grundgedanken angenommen.

Wenn der Bezug richtig ist, würde sich der Ring der Ambiguitäten am Ende in Jesus schließen. Man kann hier weiter denken und sich an die alte kirchliche Diskussion über wahrer Mensch und wahrer Gott erinnern, auch dies Ambiguität in hoher Form.
Wenn aus allem am Ende die Botschaft herausgehört wird, dass wir uns unserer Sache niemals endgültig sicher sein können und deshalb in Frieden mit unserem anders denkenden Nächsten leben sollten, dann können diese Gedanken aus dem Grenz- und Überschneidungsbereich der drei großen Buchreligionen etwas Nützliches für unsere ganze Welt enthalten. 

* Frau Neuwirth lehrt allgemein, dass der Koran, dessen Namen übersetzt „Vortrag“ heißt, aus dem lebendigen Gespräch, dem „Diskurs“ des Propheten mit der Gemeinde entstanden ist. Die Übernahme von Themen, die aus „aktuellen“ Fragen aus dem Umfeld der Gemeinde entstanden, bedeutet deshalb niemals eine kritiklose Abschrift etwa von jüdischen oder christlichen Positionen. Die Übernahme endet in der Regel in einer oft starken und eigenwilligen Neuinterpretation.

 

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