Mittwoch, 21. Oktober 2015

Der erste und der zweite Schlaf


Er steht auf beim Gesang der Vögel
(Prediger 12, 4*)


Nach einer Reihe von Gesprächen mit Leuten im Alter über Siebzig bin ich zu einigen Überlegungen gekommen, was meine mit dem Älterwerden zunehmenden Schlafstörungen betrifft. Als erstes habe ich im Internet gefunden, dass viele Kulturen den unruhigen Schlaf kennen und ihn für normal halten. Auch im Deutschen gibt es ja das Wort vom "ersten Schlaf", also von einer Periode, die recht frühzeitig unterbrochen wird Man findet Berichte, dass Menschen in vielen Teilen der Welt die Nacht in wenigstens zwei Phasen teilen, die sie als den ersten und zweiten Schlaf erleben.

In der Pause zwischen beiden Teilen steht man offenbar auf und beschäftigt sich. Ich hörte von einem schlafgestörten Mann im Vorkriegs-Westpreußen, der nachts im Dorf spazieren ging und dabei auf eine ganze Reihe von anderen Nachtwandlern stieß, die sich fröhlich trafen und angeregt unterhielten. Bei einem Anthropologen las ich, dass er eine Zeit lang bei einem Urwaldstamm in Indonesien verbracht hat, der aus Furcht vor wilden Tieren gemeinsam in einer zentralen Hütte schlief - das ganze Dorf in einem einzigen großen Raum. Hier waren viele Menschen mit mehreren Schlafphasen versammelt, es war  immer unruhig, aber es störte niemand, wenn andere sich nachts unterhielten, sich Tee kochten oder anderen Beschäftigungen nachgingen.

Offenbar ist unsere europäische Idealvorstellung von einem gleichmäßig tiefen siebenstündigen Schlaf, der erst durch das Klingeln des Weckers beendet wird, anderen Kulturen fremd.

Wenn man eingesehen hat, dass ein geteilter Schlaf keine Krankheit ist, kann man sich intensiver mit dem zweiten Problem beschäftigen: was soll man in der Pause zwischen dem ersten und zweiten Schlaf tun? Den meisten Menschen wird es ähnlich wie mir gehen, dass sie die in dieser Phase aufkommenden Nachtgedanken als störend empfinden. Man wünscht sich, recht bald wieder einschlafen zu können, und glaubt auch, dass dies gelingen könnte - wenn nur diese dunklen Gedanken nicht wären! Wer sie nicht kontrollieren kann, wird bald feststellen, dass sie immer finsterer und pessimistischer werden. In einer fatalen Kette von Assoziationen werden die Probleme des Tages größer, erscheinen plötzlich oft sogar als unlösbar. Die Sorgen um die täglichen Dinge werden zu schweren Lasten, Pessimismus macht sich breit, der Glaube an das, was man am hellen Tag als Gewissheit in sich trägt, wird klein und erscheint manchmal als eine fehlgeleitete Illusion.

Der amerikanische Autor David Foster Wallace, der an schweren Depressionen litt (er starb 2008 letztlich daran, indem er sich das Leben nahm), hat davon geschrieben, dass Menschen in Situationen kommen, in denen sie sich selbst als eine Fälschung, einen fake, ansehen und in der Angst leben, dass man von den anderen als ein solcher entdeckt  - to be found out - und bloßgestellt wird. Dieser Gedanke erscheint mir der Urgrund und die Mutter aller nächtlichen Sorgen zu sein.

In den Gesprächen mit meinen älteren Freunden sind mir verschiedene Lösungsmöglichkeiten für die Überwindung der Nachtgedanken genannt worden. Zwei Männer erzählten mir davon, dass sie gelernt haben zu meditieren. Andere nutzen diese Phase um aufzustehen (mit aufrechtem Oberkörper denkt man anders!), umherzugehen, vielleicht ein Buch zu lesen oder einen Brief zu schreiben. Wieder andere hören Musik . Dies alles erscheinen mir Wege zu sein, um die Fülle der Gedanken einigermaßen einzudämmen und am Ende nur die guten Gedanken zuzulassen.

Der Autor Ernst Jünger, der ebenfalls schlaflose und sogar depressive Phasen in seinem Leben gekannt hat, schrieb am Tage seines 79. Geburtstags in sein Tagebuch, Bin jetzt neunundsiebzig Jahre alt, dabei voll von Ideen, auch lästigen, überhaupt zu jeder Stunde im Kopf eine Assoziationsmühle. Er ist bis ins hohe Alter produktiv geblieben und hat aus den lästigen Gedanken und den mühlenhaften Assoziationen immer wieder wunderbare kleine Notizen gemacht, mit denen er seine Leser erfreut hat. Sie haben seine Tagebücher oft mehr geschätzt als seine Erzählungen.

Vielleicht liegt ein möglicher Lösungspunkt darin, dass man innerlich zu schreiben beginnt. Am Ende kommt vielleicht ein Tagebuch heraus, oder zumindest so etwas wie ein Facebook-Eintrag. Wenn es hilft, to make it through the night, ist es gut.
  
* in der alten Elberfelder-Übersetzung, die mir ein 91jähriger Mann zitierte und sagte, in diesen Versen würde das Leben der alten Leute beschrieben.


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