Dienstag, 19. Dezember 2017

Zehn Jahre Blog: Der Theroux-Effekt

Paul Theroux

Als junger Lehrer in Afrika ist der heute 76-jährige amerikanische Reiseschriftsteller Paul Theroux in Uganda seinem berühmten Kollegen V.S.Naipaul begegnet, dem späteren Nobelpreisträger. Theroux mit seinen 25 Jahren war voll Bewunderung für den neun Jahre älteren Naipaul und hat in ihm den Mentor gefunden, der seine damals ganz am Anfang stehenden Karriere als Schriftsteller entscheidend befördert hat.

Theroux hat mehr als 50 Bücher geschrieben, darunter das über 30 Jahre später erschienene "SirVidia's Shadow" (1998), das die Freundschaft der beiden Männer anfangs sehr lebendig und hoffnungsvoll beschreibt, das dann später aber auch das Zerwürfnis und den am Ende offenen Hass dokumentiert.

Einen der Ratschläge, die der junge Kollege vom älteren übernimmt, ist die Bedeutung eines Tagebuches. Theroux hatte vor der Begegnung mit Naipaul nie Tagebuch geführt und wurde von diesem sehr dringend dazu angehalten. Theroux gehorchte und besaß später aus der gemeinsamen Zeit in Afrika eine Reihe von Tagebüchern, aus denen er Teile des Naipaul-Portraits zusammenstellte. Im Buch berichtet er detailliert, dass er nicht nur die Tagebücher als Quellen benutzt hat, sondern auch die nicht schriftlich festgehaltenen Erinnerungen aus der Zeit davor und danach..

Zum Unterschied dieser beiden Zeitperioden hat er eine interessante Beobachtung gemacht: er habe die Erinnerungen aus der Zeit ohne Tagebuch sehr gut im Kopf gehabt und habe sie aus seinem Gedächtnis ohne Weiteres niederschreiben können. Dagegen hätte er festgestellt, dass er alles das, was er in den Tagebüchern gefunden habe, komplett vergessen hatte.

Warum bleiben uns bestimmte Gegebenheiten in sicherer Erinnerung und warum vergessen wir andere? Ich führe es auf den "Theroux-Effekt" zurück und nehme an, dass unser Vergess-Programm, von dem ich vor Jahren einmal las, dass es in unseren Traumphasen im Schlaf abläuft wie eine Streubüchse mit Sand über einer in Sand geschriebenen Schrift, dass dieses Programm also eine intelligente Steuerung hat. Sie unterscheidet nicht nur zwischen wichtigen und unwichtigen Erinnerungen, sondern auch zwischen dem, was bereits irgendwo notiert ist (und was man also vergessen kann) und der freien und von daher vom Vergessen bedrohten Erinnerung.

Das Gedächtnis würde also beim Programm des Löschens bestimmte Erinnerungen mit der Markierung versehen "ist irgendwo anders abgespeichert" und entsprechend in den Bereich geben, über den man den Streusand des Vergessens ausschütten kann.

Ich kann das aus eigenen Erfahrungen bestätigen. Mir ist es oft so vorgekommen, dass ich die Dinge vollkommen vergessen habe, die ich mir in ein Notizbuch geschrieben habe, oder diejenigen, die ich auf einen Zettel notiert und in irgendeine Wiedervorlage gelegt habe. Die Wiedervorlage war oft die Garantie dafür, dass ich Dinge nicht erledigte, die ich einmal für so wichtig gehalten hatte, dass ich mir eine Notiz dazu gemacht hatte.

Auch hier auf Facebook und im Blog, den ich seit einigen Jahren praktisch parallel zu Facebook führe, als Langversion sozusagen, ist zu beobachten, wie alte Erinnerungen, die man früher einmal niedergeschrieben hat, eine sehr überraschende Wirkung haben, wenn man noch einmal daran erinnert wird - was jetzt häufiger durch Facebook automatisch angestoßen wird. Solche alten Posts oder Einträge im Blog lese ich manchmal so, als seien sie vollkommen neu und oft auch, als seien sie von jemand anderem geschrieben worden und nicht von mir.

V.S.Naipaul
Der Gedanke an diesen Erinnerungseffekt ist einerseits unangenehm, weil er nahelegt, dass uns wichtige Gedanken, die uns eigentlich prägen sollten, über die Zeit gnadenlos verloren gehen. Er kann aber auch tröstlich sein, indem er uns die Hoffnung lässt, dass die Erinnerungen zwar zum größten Teil verschwinden, aber am Ende doch ein Gewebe ergeben, das wie von vielen übereinander gelegten alten Teppichen trägt und den Boden unter unseren Füßen fest macht.

Welche der beiden Möglichkeiten des Erinnerns oder Vergessens sich durchsetzt, muss sich im Laufe eines Lebens zeigen. Es wird interessant sein, über die sozialen Medien und über das, was die unendlichen Datenspeicher der Cloud über uns in ihrer fehlerlosen Erinnerung aufbewahren, eines Tages herauszufinden, was wir von alten Gedanken behalten haben - zu unserem Segen - und was wir vergessen durften.


P.S. Mit großem Erschrecken stelle ich beim Googlen meiner eigenen Bestände fest, dass ich den Theroux-Effekt bereits vor fünf Jahren hier im Blog beschrieben habe - mit einer etwas anderen Schlussfolgerung. Alles vergessen!

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